Die erfinderische Tätigkeit und somit auch die Patentierbarkeit einer beanspruchten Erfindung kann auf experimentelle Daten gestützt werden, die eine technische Wirkung nachweisen.
Die Große Beschwerdekammer hat nun über die Zulässigkeit von Versuchsdaten, die nach dem Anmeldetag der Patentanmeldung eingereicht wurden, entschieden (Aktenzeichen G 2/21). Die Entscheidung ist insbesondere für anhängige und künftige Verfahren im Bereich der Life Science von Bedeutung, da in diesem Bereich eine technische Wirkung häufig nur aus experimentellen Daten abgeleitet werden kann.
Kernpunkte der Entscheidung
1. Die Große Beschwerdekammer bestätigte den Grundsatz der freien Beweiswürdigung als allgemeinen Grundsatz bei der Bewertung von Beweismitteln unter dem Europäischen Patentübereinkommen.
2. Für die erfinderische Tätigkeit kann sich ein Patentanmelder oder Patentinhaber auf einen Beweis für eine technische Wirkung berufen, der nach dem Anmeldetag eingereicht wurde, wenn der Fachmann unter Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens und ausgehend von der Offenbarung der ursprünglich eingereichten Anmeldung diese Wirkung als von der technischen Lehre umfasst ableiten und als durch dieselbe ursprünglich offenbarte Erfindung verkörpert ansehen würde.
3. Die Große Beschwerdekammer gelangte ferner zu dem Schluss, dass der allgemein vom und beim Europäischen Patentamt verwendete Begriff "Plausibilität" keinen besonderen Rechtsbegriff oder eine spezifische patentrechtliche Anforderung unter dem Europäischen Patentübereinkommen darstellt.
Hintergrund - Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit vor dem EPA
Das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit ist eine Voraussetzung für die Erteilung und Rechtskräftigkeit eines europäischen Patents. Zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit wird im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt der sogenannte Aufgabe-Lösungs-Ansatz angewandt. Nach den Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt (im Folgenden "Richtlinien" genannt) soll der Aufgabe-Lösungs-Ansatz die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit objektiv und vorhersehbar machen.
Beim Aufgabe-Lösungs-Ansatz können experimentelle Daten, die zeigen, dass das/die Unterscheidungsmerkmal(e) eine technische Wirkung gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik verleiht (oder verleihen), zur Formulierung einer anspruchsvollen objektiven technischen Aufgabe und anschließend zu einer Feststellung der erfinderischen Tätigkeit führen.
Der im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes ermittelte nächstliegende Stand der Technik ist dem Patentanmelder jedoch am Anmeldetag der Patentanmeldung häufig nicht bekannt. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Entwicklung eigene Produkte oder Verfahren zugrunde liegen, die nicht den nächstliegenden Stand der Technik darstellen.
Teilweise gibt es nach den Richtlinien auch mehrere gleichwertige Ausgangspunkte (nächstliegender Stand der Technik) für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit. In solchen Fällen kann es bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit erforderlich sein, den Aufgabe-Lösungs-Ansatz ausgehend von jedem dieser gleichwertigen Ausgangspunkte zu formulieren.
Aus diesen Gründen enthält eine Patentanmeldung häufig keine experimentellen Daten, die einen technischen Effekt gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik für das (die) Unterscheidungsmerkmal(e) nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz zeigen.
Für die Bejahung der erfinderischen Tätigkeit kann daher entscheidend sein, dass nach dem Anmeldetag der Patentanmeldung experimentelle Daten vorgelegt werden können, um eine technische Wirkung für das/die Unterscheidungsmerkmal(e) gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik nachzuweisen.
Dementsprechend können nach den derzeit geltenden Richtlinien Nachweise, die bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu berücksichtigen sind, auch nach dem Anmeldetag der Patentanmeldung als sogenanntes „nachveröffentlichter Beweismittel“ („post-published evidence“) wirksam eingereicht werden. Wenn jedoch neue technische Wirkungen zur Stützung der erfinderischen Tätigkeit erwähnt werden, können diese neuen technischen Wirkungen gemäß den Richtlinien nur dann berücksichtigt werden, wenn sie durch ein in der ursprünglichen Patentanmeldung offenbartes technisches Problem impliziert oder zumindest damit in Zusammenhang stehen.
Der zugrundeliegende Fall
Im Einspruchsbeschwerdeverfahren "Insektizidzusammensetzungen" (Syngenta gegen Sumitomo Chemical Company) vor der Beschwerdekammer 3.3.02 des Europäischen Patentamts sind experimentelle Daten, die erst im Einspruchsverfahren eingereicht wurden, für die Bejahung der erfinderischen Tätigkeit ausschlaggebend.
Unter Berücksichtigung dieser experimentellen Daten kann die objektive technische Aufgabe anspruchsvoll formuliert werden, nämlich, dass eine Insektizidzusammensetzung bereitgestellt werden soll, in der die enthaltenen Insektizide eine synergistische Aktivität gegen einen bestimmten Schädling aufweisen. Die Lösung des Problems wäre erfinderisch.
Ohne diese experimentellen Daten kann die objektive technische Aufgabe nur weniger anspruchsvoll als die Bereitstellung einer alternativen Insektizidzusammensetzung formuliert werden. Die Lösung dieses Problems wäre nicht erfinderisch.
Somit hängt die Rechtsbeständigkeit des Patents im vorliegenden Einspruchsbeschwerdeverfahren von der Berücksichtigung der experimentellen Daten ab.
In der Zwischenentscheidung T 116/18 vertrat die Beschwerdekammer die Auffassung, dass sich zwischen den Beschwerdekammern drei unterschiedliche Rechtsprechungslinien zu den Umständen herausgebildet hätten, unter denen sogenannte "nachveröffentlichte Beweismittel" berücksichtigt oder eben nicht berücksichtigt werden.
Die Rechtsfrage, unter welchen Umständen diese „nachveröffentlichten Beweismittel“ berücksichtigt werden dürfen oder nicht, ist von grundlegender Bedeutung und eine Entscheidung für eine einheitliche Rechtsanwendung unerlässlich.
Die Vorlagefragen
Die Beschwerdekammer 3.3.02 legte in ihrer Entscheidung T 116/18 der Großen Beschwerdekammer die folgenden drei Fragen vor:
"Wenn sich der Patentinhaber für die Anerkennung der erfinderischen Tätigkeit auf eine technische Wirkung beruft und Beweise, wie z.B. experimentelle Daten, zum Nachweis einer solchen Wirkung vorgelegt hat, wobei diese Beweise vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich waren und nach diesem Tag eingereicht wurden (nachveröffentlichte Beweismittel):
1. Sollte eine Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung (siehe z.B. G 3/97, RN 5, und G 1/12, RN 31) dahingehend angenommen werden, dass nachveröffentlichte Beweismittel mit der Begründung außer Acht gelassen werden müssen, dass der Nachweis der Wirkung ausschließlich auf den nachveröffentlichten Beweismitteln beruht?
2. Falls die Frage bejaht wird (die nachveröffentlichten Beweismittel müssen außer Acht gelassen werden, wenn der Nachweis der Wirkung ausschließlich auf diesen Beweismitteln beruht), können die nachveröffentlichten Beweismittel dann berücksichtigt werden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der Streitpatentanmeldung aufgrund der Angaben in der Streitpatentanmeldung oder aufgrund des allgemeinen Wissensstandes die Wirkung für plausibel gehalten hätte (ab initio Plausibilität)?
3. Falls die erste Frage zu bejahen ist (die nachveröffentlichten Beweismittel sind außer Acht zu lassen, wenn der Nachweis der Wirkung ausschließlich auf diesen Beweismitteln beruht), können die nachveröffentlichten Beweismittel berücksichtigt werden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der Streitpatentanmeldung aufgrund der Angaben in der Streitpatentanmeldung oder des allgemeinen Wissens keinen Anlass gesehen hätte, die Wirkung für unplausibel zu halten (ab initio-Unplausibilität)?"
Die Entscheidung
Die Große Beschwerdekammer entschied wie folgt:
1. Von einem Patentanmelder oder Patentinhaber vorgelegte Beweise zum Nachweis einer technischen Wirkung, auf die sich die Anerkennung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands stützt, dürfen nicht allein deshalb unberücksichtigt bleiben, weil solche Beweise vor dem Anmeldetag des Patent der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren und erst nach diesem Datum eingereicht wurden.
2. Ein Patentanmelder oder Patentinhaber kann sich für die erfinderische Tätigkeit auf eine technische Wirkung berufen, wenn der Fachmann unter Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens und ausgehend von der Offenbarung der ursprünglich eingereichten Anmeldung diese Wirkung als von der technischen Lehre umfasst ableiten und als durch dieselbe ursprünglich offenbarte Erfindung verkörpert ansehen würde.
Bewertung
Die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer ist vernünftig.
Die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer erlaubt es einem Spruchkörper des Europäischen Patentamts, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob „nachveröffentlichte Beweismittel“ zur Stützung einer behaupteten technischen Wirkung herangezogen werden können oder nicht, wenn es um die Beurteilung geht, ob die beanspruchte Wirkung vorliegt oder nicht und ob der beanspruchte Gegenstand auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
Im Hinblick auf den formalen Aufgabe-Lösungs-Ansatz ist es wichtig, dass ein Spruchkörper des Europäischen Patentamts über ausreichende Flexibilität verfügt und nicht verpflichtet ist „nachveröffentlichte Beweismittel“ pauschal zurückzuweisen.
Die Zurückweisung „nachveröffentlichter Beweismittel“ ohne Ermessensspielraum für die Entscheidungsinstanz wäre problematisch für Anmeldungen, bei denen ein bisher unbekanntes Dokument nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz als nächstliegender Stand der Technik bestimmt wird.
In diesen Fällen könnten weitere experimentelle Daten zum Nachweis einer technischen Wirkung des Unterscheidungsmerkmals gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik und eine Neuformulierung der objektiven technischen Aufgabe erforderlich sein.
Dem Patentanmelder kann jedoch nicht zugemutet werden, mit der Patentanmeldung am Anmeldetag Versuchsdaten zu allen denkbaren objektiven technischen Aufgaben einzureichen.