Das kürzlich veröffentlichte Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union („EuGH“) vom 9. Juli 2020 (C-673/18 - Santen) betrifft nicht nur die ergänzenden Schutzzertifikate („SPCs“), die die Dauer des Patentschutzes um bis zu fünfeinhalb Jahre verlängern können. Das Urteil betrifft auch die pharmazeutische Industrie und Forschung sowie die öffentlichen Gesundheitssysteme innerhalb der Europäischen Union.
Der EuGH entschied, dass Artikel 3(d) der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 („die Verordnung“) des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 6. Mai 2009 über SPCs für Arzneimittel dahingehend auszulegen ist, dass eine Genehmigung für das Inverkehrbringen („Marktzulassung“, „MZ“) nicht als erste MZ im Sinne der Verordnung angesehen werden kann, wenn sie eine neue therapeutische Anwendung eines Wirkstoffes oder einer Wirkstoffkombination betrifft und dieser Wirkstoff oder diese Wirkstoffkombination bereits Gegenstand einer MZ für eine andere therapeutische Anwendung ist.
Fakten und Urteil
Santen ist ein französisches pharmazeutisches Labor, das sich auf Augenheilkunde spezialisiert hat. Santen wurde ein europäisches Patent erteilt, das eine ophthalmische Emulsion schützt, in der der Wirkstoff Ciclosporin, ein Immunsuppressivum, enthalten ist.
Santen wurde von der Europäischen Arzneimittelagentur die MZ für ein Arzneimittel mit dem Namen „Ikervis“ erteilt. Der Wirkstoff von „Ikervis“ ist Ciclosporin. „Ikervis“ wird zur Behandlung schwerer Keratitis bei erwachsenen Patienten mit Syndrom des trockenen Auges eingesetzt, das sich trotz Behandlung mit Tränenersatzmitteln nicht gebessert hat und eine Entzündung der Hornhaut verursacht.
Auf der Grundlage des Patentes und der MZ reichte Santen eine Anmeldung für ein SPC für ein Produkt namens „Ciclosporin zur Verwendung bei der Behandlung von Keratitis“ ein.
Das französische Patentamt INPI wies diese SPC-Anmeldung mit der Begründung zurück, dass es sich bei der vorliegenden MZ nicht um die erste MZ für Ciclosporin im Sinne von Artikel 3(d) der Verordnung handele.
Tatsächlich war 1983 eine MZ für ein Arzneimittel erteilt worden, das ebenfalls Ciclosporin als Wirkstoff enthielt. Dieses Arzneimittel war als orale Lösung formuliert und zur Verhinderung der Abstoßung fester Organtransplantate und von Knochenmarkstransplantaten sowie für andere therapeutische Anwendungen, einschließlich der Behandlung der endogenen Uveitis, einer Entzündung der gesamten oder einesTeiles der Uvea, des mittleren Teiles des Augapfels, indiziert. Insgesamt unterschied sich Santens Arzneimittel also in der Formulierung und der therapeutischen Indikation von dem Arzneimittel mit der MZ von 1981.
Santen legte gegen diese Zurückweisung Beschwerde ein und beantragte die Nichtigerklärung der Entscheidung oder die Anrufung des EuGH zur Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 3(d) der Verordnung. Das Beschwerdegericht beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH mehrere Fragen vorzulegen.
Nach fast einem Jahrzehnt der Unsicherheit und Duldung von SPCs für weitere therapeutische Anwendungen lässt die Antwort des EuGH auf diese Fragen keinen Spielraum für die Auslegung von Artikel 3(d) der Verordnung.
Die Antwort des EuGH wird wahrscheinlich zur Zurückweisung von Anmeldungen für SPCs für weitere therapeutische Anwendungen, einschließlich der von Santen, führen.
Artikel 3(d) der Verordnung und verwandte Rechtsprechung
Kurzgefasst, gemäß Artikel 3(d) der Verordnung wird ein SPC erteilt, wenn in dem Mitgliedstaat eine MZ für das Erzeugnis erteilt wurde und diese MZ die erste MZ für dieses Erzeugnis ist.
Gemäß Artikel 1(b) der Verordnung bezeichnet der Begriff „Erzeugnis“ den Wirkstoff oder die Wirkstoffkombination eines Arzneimittels.
Die wörtliche Auslegung dieser Artikel lässt de facto keinen Raum für die Erteilung von SPCs auf der Grundlage neuer therapeutischer Anwendungen eines Wirkstoffs mit früherer MZ.
In einem Urteil des EuGH aus dem Jahre 2012 (C-130/11 - Neurim) wich der EuGH jedoch von der wörtlichen Auslegung der Verordnung ab. In diesem Urteil stellte der EuGH fest, dass eine frühere tierärztliche MZ eines Wirkstoffes die Erteilung eines SPC für eine andere therapeutische Anwendung desselben Wirkstoffs beim Menschen nicht ausschließt. Während dieses Urteil und seine Bedeutung für andere Fälle umstritten blieb, wurden in der Folge in europäischen Ländern im Allgemeinen SPCs für weitere therapeutische Anwendungen erteilt.
Im Lichte des neuen Urteiles sollte diese Praxis Vergangenheit sein. Das Urteil stellt eindeutig fest, dass eine MZ nicht als erste MZ im Sinne der Verordnung angesehen werden kann, wenn sie eine neue therapeutische
Anwendung eines Wirkstoffes oder einer Wirkstoffkombination betrifft und dieser Wirkstoff oder diese Kombination bereits Gegenstand einer MZ für eine andere therapeutische Anwendung war.
Die Schlussanträge des Generalanwaltes in einem verwandten Fall des EuGH aus dem Jahre 2019 (C-443/17 - Abraxis) können nun als Vorbote für das vorliegende restriktive Urteil betrachtet werden. Im Lichte der restriktiven Schlussanträge des Generalanwaltes und seiner wörtlichen Auslegung der Verordnung in dem Fall Abraxis entschied der EuGH in dem Fall Abraxis, dass für eine neue Formulierung eines Wirkstoffs mit
früherer MZ keine SPCs erteilt werden dürfen.
Interessanterweise nahm die Europäische Kommission an dem Abraxis-Verfahren teil und schien eine wörtliche Auslegung von Artikel 3(d) der Verordnung nicht zu bevorzugen. Im Gegensatz dazu enthielt die letzte
Änderung der Verordnung vom 20. Mai 2019 aber keine Änderungen bezüglich Artikel 3(d) der Verordnung.
Folgen & Ausblick
Das Urteil ist von hoher Relevanz für innovative Pharmaunternehmen. Der „Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V.“ registrierte im Jahre 2019 in Deutschland 63 Markteinführungen innovativer Arzneimittel. Nur 25 (40 %) davon enthalten neue Wirkstoffe, 6 (10 %) davon enthalten neue Wirkstoffkombinationen. 18 Markteinführungen (29 %) betreffen neue therapeutische Anwendungen eines Wirkstoffes mit früherer MZ. 14 Markteinführungen (22 %) betreffen eine neue Formulierung eines Wirkstoffes mit früherer MZ.
Im Lichte des Santen-Urteiles können 29 % dieser innovativen Arzneimittel nicht Gegenstand eines SPC sein. Betrachtet man zusätzlich das Urteil im Fall Abraxis, so können 51 % der innovativen Arzneimittel des Jahres 2019 nicht Gegenstand eines SPC sein.
Während die wörtliche Auslegung von Artikel 3(d) der Verordnung einen früheren Marktzugang für die Generikaindustrie und geringere Kosten für die öffentlichen Gesundheitssysteme ermöglicht, verringert das
Urteil auch den Anreiz zur Entwicklung innovativer pharmazeutischer Produkte.
Im Jahre 2019 verabschiedete das Europäische Parlament und der Europäische Rat den „SPC manufacturing waiver”, wodurch die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Generikaindustrie verbessert und der Aufbau eines Arzneimittelvorrates innerhalb der Europäischen Union für die Einführung in den europäischen Markt an Tag 1 nach Ablauf eines SPC ermöglicht wird. Es wäre erfreulich zu sehen, dass die europäische innovative Industrie in vergleichbarer Weise unterstützt wird und die Europäische Union als Zentrum der pharmazeutischen Innovation gestärkt wird.
» Santen - Eindeutiges Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (PDF)
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